Ania Mauruschat, Neo Hülcker und Vito Pinto haben »Pisten« von Penda Diouf zum Hörspiel des Jahres 2022 gekürt.
https://darstellendekuenste.de/horspiel-des-jahres
Hörspiel des Jahres 2022 – Jurybegründung
Pisten von Penda Diouf erzählt von tiefsitzenden, körperlichen wie seelischen Wunden, die nur schwer bis gar nicht verheilen, u.a. weil von ihnen noch immer zu wenig gesprochen wird. Dieser autobiographische Theatermonolog geht unter die Haut, und in der herausragenden Hörspielfassung, inszeniert von Christine Nagel und gesprochen von Abak Safaei-Rad, noch viel mehr.
In dem Text verwebt die französisch-senegalesisch-ivorische Autorin und Schauspielerin ihre eigene Geschichte als 1981 in Dijon geborene Tochter afrikanischer Eltern mit der Geschichte und Gegenwart von Kolonialismus und Rassismus gegenüber Schwarzen* Menschen und deren Widerstand dagegen.
Im Zentrum des Hörspiels steht eine Reise, die Penda Diouf 2010 nach Namibia unternahm. Ausgangspunkt dieser Reise ist eine Lebenskrise der Ich-Erzählerin, die in einer Depression gipfelte, welche aus den unterschiedlichen rassistischen und traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend resultierte. Schlaglichtartig erfahren wir von ihnen, durch die Beschreibung von bedrückenden Szenen wie z.B. der, als ihr beim Karneval im Gegensatz zu den anderen Kindern die schwarze Farbe im Gesicht verwehrt wird, weil sie ja schon Schwarz sei, oder der Szene der Verabschiedung von ihrem von Rassisten in Frankreich ermordeten Onkel in der Leichenhalle.
Durch ihre Reise erhält das individuelle Schicksal der jungen Frau jedoch eine historische und politische Dimension, da sie mit der Geschichte Namibias konfrontiert wird: Zum einen mit den Spuren der Apartheid, da Namibia von 1915 bis 1990 von Südafrika besetzt war, zum anderen v.a. aber auch mit den Spuren des Völkermords an den Herero und Nama, der in der damaligen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (1884–1915) unter Führung des preußischen Generals Lothar von Trotha mit Unterstützung des deutschen Kaisers Wilhelm II. begangen wurde. Das furchtbare Schicksal der Opfer kontrastiert Diouf im Hörspiel einerseits mit der Geschichte des Widerstands der Herero und Nama sowie den herausragenden Leistungen und Widerstandsgesten Schwarzer Sportler:innen von Jesse Owens über Surya Bonaly bis Colin Kaepernick und andererseits mit ihrem eigenen, zunehmenden Mut, als selbstbewusste und kämpferische, Schwarze Frau und Schriftstellerin sichtbar zu werden und ihre Stimme zu erheben.
Indem Diouf von diesen tiefen, anhaltenden Wunden spricht, die Kolonialismus und Rassismus geschlagen haben, und wie sie von ihnen spricht, tut sie das Einzige, was vielleicht zumindest ein bisschen dabei helfen kann, Traumata zu heilen: Sie holt sie aus dem Verdrängten, Verschwiegenen, Vergessenen in unser Bewusstsein, und sie tut das auf so poetische und einfühlsame Weise, dass sie beim Hören auch weiße Menschen, Nachkommen der europäischen Kolonialmächte, tief berühren und dazu bewegen, über die Ursachen dieser Wunden nachzudenken und sich zu ihnen zu verhalten.
Der literarische Text der Autorin Penda Diouf, in der gelungenen Übersetzung von Anette Bühler-Dietrich, die schauspielerische Leistung der Sprecherin Abak Safaei-Rad sowie die Schauspielführung und Inszenierung der Regisseurin Christine Nagel sind dabei gleichermaßen herausragend. Pisten überzeugt somit in jeder Hinsicht, nicht nur als Hörspiel des Monats Juni 2022, sondern ebenso als Hörspiel des Jahres 2022.
Jury: Neo Hülcker / Ania Mauruschat / Vito Pinto
*Das Adjektiv Schwarz mit einem großen S geschrieben bezeichnet gerade nicht eine Hautfarbe, sondern markiert eine sozio-politische Position innerhalb einer mehrheitlich weiß dominierten Gesellschaft. Diese Schreibweise wurde als emanzipatorische Praxis von Autor*innen der Schwarzen Diaspora eingeführt. Wir haben sie übernommen, um unsere Solidarität mit deren antirassistischen Anliegen auszudrücken.
Kommentar schreiben